Musik im Weltbild des Mittelalters

Musik im Weltbild des Mittelalters
Musik im Weltbild des Mittelalters
 
Klar umgrenzte und überall gültige Anschauungen vom Sinn und Wesen der Musik kann es in einer Epoche von fast tausend Jahren, in der sich politisch, sozial und kulturell so Vieles durchgreifend verändert hat und in der Menschen aller Schichten und aus den unterschiedlichsten Ländern und Regionen Musik machten und hörten, nicht gegeben haben. Immerhin lassen die überlieferten Traktate - anders als in späteren Epochen - eine gewisse Konstanz grundlegender Denkmodelle in der Erklärung und Wertung der Musik deutlich erkennen. Dies ist angesichts des langen Zeitraums, der verschiedenartigen Herkunft, Stellung und Absicht der mittelalterlichen Autoren sowie der lückenhaften Quellenlage erstaunlich und lässt sich nur aus der überwiegend bewahrenden, traditionsorientierten Haltung des zeitgenössischen Schrifttums erklären.
 
Generell wird nicht nur unsere Kenntnis der musikalischen Praxis, je weiter wir zurückzublicken versuchen, immer unvollständiger und diffuser. Auch die Zeit selbst hat diese musikalische Praxis, soweit wir sehen, als minderwertig angesehen, als ein geistloses Spiel, das einer philosophischen Betrachtung nicht würdig ist. Erst in karolingischer Zeit tritt hier eine Wandlung ein. Musik wird nun als das, was sie tatsächlich ist, untersucht, beschrieben und gelehrt. Doch verbleibt auch dies ein theoretischer Zugriff auf die Praxis, der wie in der Antike versucht, das zu lenken, zu ordnen und zu rationalisieren, was sich möglicherweise viel freier, ungebärdiger und irrationaler im realen Singen und Klingen vollzog.
 
Bis ins 14. Jahrhundert hinein galt mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen dieser Vorrang der Theorie über die Praxis. Sie entspricht der antiken Höherbewertung des Denkens gegenüber der Intuition, wie sie Augustinus, Isidor von Sevilla und Boethius, dieser ausdrücklich auch im Hinblick auf die Musik (»De Institutione musica«, um 500), der nachantiken Zeit vererbt hatten.
 
Die Musik war für das Mittelalter eine Wissenschaft, eine »Scientia«, »Ars« oder »Disciplina«, und gehörte zum Lehrstoff der »Septem Artes liberales«, der Sieben Freien Künste, und zwar nicht zu den sprachlichen Fächern (Grammatik, Rhetorik, Dialektik), sondern zu den mathematischen (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astonomie). Maß und Zahl machten das Wesen der Musik aus, was auch aus dem überall tradierten Hinweis auf die »Erfindung« der Musik durch Pythagoras deutlich wird. Der Legende zufolge kam Pythagoras an einer Schmiede vorbei, in der fünf Gehilfen mit Hämmern auf einen Amboss schlugen. Die Schläge ließen, da die Hämmer unterschiedlich schwer waren, fünf unterschiedliche Töne erklingen. Pythagoraswog die Hämmer und stellte fest, dass diejenigen mit dem Gewichtsverhältnis 1 : 2 eine Oktave ergaben, diejenigen mit dem Verhältnis 2 : 3 eine Quinte und diejenigen mit dem Verhältnis 3 : 4 eine Quarte. Auf dem Monochord, einem Instrument mit einer Saite und einem beweglichen Steg, dem wichtigsten Lehrmittel der mittelalterlichen Musiktheorie, konnten solche Intervallverhältnisse durch Teilung der Saite demonstriert werden. Dieses und anderes Wissensgut zeichnete die Musik als mathematische Disziplin aus und damit ihre Verankerung in einer auf Zahlenverhältnissen gegründeten Weltordnung, wie sie sich etwa in der ebenfalls pythagoreischen Auffassung von der Entsprechung der sieben Töne einer Oktave und der sieben Planeten (einschließlich Sonne und Mond) widerspiegelt. Dass neben Pythagorasnicht selten auch auf Orpheus, den mythischen Sänger, verwiesen wird, der mit seinem Gesang die Tiere gezähmt, die Steine erweicht und sogar Tote erweckt hat, zeigt, dass dem Mittelalter die Spannung zwischen rationaler Ordnung und unmittelbar ergreifender Wirkung, die der Musik wesentlich ist, durchaus bewusst war.
 
Seit Augustinus wird der pythagoreisch-platonische Gedanke eines zahlhaft geordneten Kosmos programmatisch ins Christliche umgedeutet. Gott hat »alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet«, wie es zum Beispiel im Buch der Weisheit (11, 20) ausgedrückt wird. Ihm ist all unser Denken und Tun, auch und gerade das musikalische, unterworfen. Und der Gesang, wie er den Gottesdienst trägt, ist Ausdruck der Andacht und Abbild einer himmlischen Liturgie.
 
Von hier aus wird die Trennung in eine höhere geistliche und eine niedere weltliche Sphäre, wie sie sich innerhalb der mittelalterlichen Kultur auch in der Musik ausprägte, verständlich. Nicht überall ist die Trennung streng durchgehalten. Auf manchen Abbildungen werden die Sphären sogar auffällig vermischt. Doch gibt es viele Illustrationen, die eindeutig ein »Oben« und ein »Unten« voneinander abheben, indem sie den einen Bereich der Musik etwa durch König David mit der Harfe, einen liturgischen Psalmsänger und einen kirchlichen Musiklehrer mit dem Monochord und den sieben Glöckchen einer Tonleiter darstellen, den anderen durch Musikanten mit Trommeln, Fiedeln und Blasinstrumenten, mit Tänzern und Gauklern, die die oft verachtete und verpönte weltliche Musik repräsentieren. Das musikalische Weltbild des Mittelalters enthält also auch von der gesellschaftlichen Realität geprägte soziokulturelle Elemente, die allerdings von den theologischen, den spekulativen, den traditionsgeschichtlichen und den pädagogischen kaum zu trennen sind.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.Taschenbuchausgabe München u. a. 1996.
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.
 Gülke, Peter: Mönche, Bürger, Minnesänger. Musik in der Gesellschaft des europäischen Mittelalters. Leipzig u. a. 21980.
 Hammerstein, Reinhold: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters.Bern u. a. 21990.
 Walter, Michael: Grundlagen der Musik des Mittelalters. Schrift — Zeit — Raum. Stuttgart u. a. 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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